Fünf europäische Länder als Vorbild
Politik für das neue Jahrzehnt: Warum Bürgerräte boomen

von GN Good News
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Gute Nachrichten aus Berlin (Deutschland) vom

Bürgerräte mit zufällig ausgelosten Menschen als Ergänzung und Unterstützung der Parlamente könnten das Politikformat des neuen Jahrzehnts werden. Gerade mit Blick auf die ganz großen Fragen wie die Klima- oder die Demokratiekrise geben die bisherigen Erfahrungen mit zufällig ausgewählten Menschen Grund zur Hoffnung: Wenn Bürger*innen gut informiert sind, ausreichend Zeit und einen geschützten Raum für Diskussionen haben und der Prozess gut moderiert ist, kommen Lösungen heraus, die die Politik unterstützen und hinter denen eine Mehrheit der Bevölkerung steht. Und die beste Nachricht: Allen Skeptiker*innen zum Trotz funktioniert es auch in einem großen Land wie Deutschland, wie der Bürgerrat beweist.

Ein Überblick

In fünf europäischen Ländern sind derzeit Bürgerräte in Vorbereitung oder laufen bereits:

  1. In Frankreich schreibt gerade der „Convention Citoyenne pour le Climat“ Geschichte: Die Versammlung von 150 zufällig ausgelosten Menschen wurde von Präsident Macron ins Leben gerufen. Er reagierte damit auf Kritik aus der Bevölkerung im Rahmen der Gelbwesten-Proteste. Im April wird der Bürgerrat seine Empfehlungen zum Klimaschutz vorlegen. Macron hat versprochen, dass es ein Referendum geben soll, in dem ganz Frankreich über die Vorschläge abstimmt. Außerdem sollen Bürgerräte zur dritten Kammer der Republik werden.
    Mehr dazu: Referendum nach Klima-Bürgerrat 
  2. In Großbritannien wird ebenfalls ein Klima-Bürgerrat vorbereitet: 110 Menschen, die die Bevölkerung gut abbilden, sollen vier Wochenenden lang von Expert*innen informiert werden und dann Vorschläge erarbeiten, wie Großbritannien bis 2050 klimaneutral werden kann.
    Mehr Infos: Climate change: Citizens' assembly prepares to tackle climate change 
  3. In Schottland beraten an mehreren Wochenenden bis zum April 100 zufällig ausgewählte Bürger*innen über die Zukunft ihres Landes, unter anderem mit Blick auf den Brexit. Die Empfehlungen dazu, wie Schottland mit den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts umgehen soll, werden dem Parlament vorgelegt.
    Mehr dazu: Welcome to the Citizens' Assembly of Scotland 
  4. Irland war beim Thema nationale Bürgerräte Vorreiter: Die Volksabstimmungen, mit denen die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare eingeführt und das rigide Abtreibungsverbot gelockert wurden, gingen auf Vorschläge von gelosten Bürger*innen zurück. Die nächste Citizens‘ Assembly 2020 beschäftigt sich mit Geschlechtergerechtigkeit.
    Mehr Infos: The Citizens' Assembly in 2020 
  5. In Deutschland fand 2019 der erste bundesweite Bürgerrat mit 160 aus den Einwohnermelderegistern gelosten Menschen statt. An zwei Wochenenden haben sie 22 Vorschläge zur Stärkung der Demokratie erarbeitet. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble hat die Vorschläge auf einem Festakt entgegengenommen und sorgt derzeit dafür, dass sie im Parlament besprochen werden. Viele der 160 Teilnehmenden führen währenddessen Gespräche mit Abgeordneten in ihren Wahlkreisen, um die Vorschläge des Bürgerrats bekannt zu machen.
    Alle wichtigen Infos: Bürgerrat

Das sind die Fakten und sie belegen, dass es gute und erprobte Mittel gegen „Politikverdrossenheit“ gibt. Aber noch viel besser als die Fakten ist das Erlebnis. Ja, es funktioniert wirklich! Und es hat was mit mir, mit Dir, mit Ihnen, mit uns allen zu tun.

Einen ersten Eindruck gibt es im Video zum Bürgerrat Demokratie:

 

Anne Dänner hat den Bürgerrat über viele Monate begleitet und den vorläufigen Höhepunkt miterlebt: Den „Tag für die Demokratie“ mit der Übergabe an die Politik und einer großen Kunstaktion direkt vor dem Reichstag. Hier berichtet sie von ihren Erlebnissen.

Democreation: So fühlt es sich an, wenn Menschen ihre Gestaltungskraft entdecken

Ich hätte nie gedacht, dass ich mal laut über die Tatsache jubeln würde, dass eine Drohne über der Wiese vor dem Reichstag fliegt. Die Wahrscheinlichkeit eines Drohnen-Flugs über der Reichstagswiese ist auch ziemlich gering. Noch geringer die Wahrscheinlichkeit, dass Polizei und Sicherheitskräfte nicht sofort Alarm schlagen… Aber genau so war es. Ausgerechnet eine Drohne hat am 15. November geholfen, ein Bild menschlicher Verbundenheit in die Welt zu schicken.

Foto 1 7e9d1Foto 1: Kunstaktion von John Quigley und Mehr Demokratie anlässlich des Bürgerrats Demokratie, 15.11.19. Foto: Clemens Wronski für Mehr Demokratie e.V.

Ein bisschen Größenwahn

Ein lebendes Kunstwerk für die Demokratie – gestaltet von und mit hunderten von Menschen. Ein Symbol für die Gestaltungskraft der Bürger*innen, das zugleich eine Brücke in den Bundestag, zu unseren Vertreter*innen schlägt. Als diese Idee vor etlichen Monaten geboren wurde, schien das alles ganz schön größenwahnsinnig.

Anlass war ein anderes Projekt, ebenfalls ein bisschen größenwahnsinnig. Der erste bundesweite Bürgerrat, ein „Bürgerrat Demokratie“. Und zwar nicht mit den „üblichen Verdächtigen“, die sich ohnehin für Politik interessieren, sondern mit ausgelosten Menschen aus den Einwohnermelderegistern.

Losverfahren – da kann ja jeder kommen!

160 Leute, die die ganze Vielfalt der in Deutschland lebenden Menschen repräsentieren – aus dem Mini-Dorf und aus der Großstadt, mit Hauptschulabschluss und Doktortitel, zwischen 16 bis zu 82 Jahre alt, Frauen, Männer und Diverse, mit und ohne Migrationshintergrund. Diese 160 kamen im Herbst an vier Tagen zusammen, um Vorträge von Expertinnen und Experten anzuhören und dann über ein so abstraktes Thema wie Demokratie zu diskutieren.

Foto 2 b7508Foto 2: Bürgerrat Demokratie – 160 ausgeloste Menschen in Aktion – Leipzig, September 2019. Foto: Robert Boden für Bürgerrat Demokratie.

Wie gut unser Zusammenleben funktioniert, hängt unmittelbar damit zusammen, wie gut unsere Demokratie funktioniert. Anders gesagt: Wenn der Werkzeugkasten schlecht ausgestattet ist, die Sägen rosten und an den Schraubenziehern die Bits fehlen, dann wird man auch nichts Funktionierendes oder gar Schönes bauen können.

Wenn ganz normale Menschen Politik machen

Über die Grundlagen der Politik mit ganz normalen Menschen zu diskutieren und ihnen tragbare Lösungen zuzutrauen, das war zumindest mal ein Wagnis. Und es hat funktioniert, es hat unglaublich gut funktioniert:

John Quigley, ein US-amerikanischer Künstler, hat von diesem Demokratie-Projekt erfahren. Seit 20 Jahren beschäftigt er sich mit drängenden politischen Fragen und schafft dazu sogenannte Aerial Arts – Kunstwerke, die ihre volle Wirkung aus der Vogelperspektive entfalten. Die Überzeugung dahinter ist ähnlich wie beim Bürgerrat: Das Ganze erhält seine Kraft und Schönheit durch die einzelnen, die daran beteiligt sind. Es kommt buchstäblich auf jeden Menschen an, damit das Kunstwerk – oder eben die Demokratie – sich voll entfalten kann.

Yeah – die Idee war geboren. Zur Übergabe der Bürgerrats-Ergebnisse an Wolfgang Schäuble und Vertreter*innen aller Bundestags-Parteien würde Mehr Demokratie gemeinsam mit John Quigley und seinem Team ein riesiges, wunderschönes Bild auf die Reichstagswiese bringen. So entstand die Demokratie-Spirale vor dem Reichstag:

 

Gestaltungskraft und Verbundenheit als Grundprinzipien

Was am 15. November – und in den Monaten davor – passiert ist, hat so viel zu tun mit unserem Potential als Menschen, mit unserem Zusammenleben in aller Verschiedenheit und trotzdem auf Augenhöhe, mit unserer Schöpfungskraft. DEMOCREATION – das ist das Wort, das mir dazu einfällt, eine Mischung aus Demokratie, Schöpfung und Kreativität im Sinne von Gestaltungskraft.

Dass wir nach langem Ringen eine Spirale als Symbol gewählt haben, ist kein Zufall. Denn sie steht für drei wichtige Prinzipien:

  1. Unendlichkeit/Dynamik: Auf einer Demokratie-Konferenz wurde kürzlich der Satz geprägt: „Democracy is a conversation that never ends.“ Ein Austausch, der niemals endet. Den braucht es auf jeden Fall zwischen den Abgeordneten und den Menschen, die sie vertreten sollen. Und darum ist die Spirale, die sich zum Bundestag in öffnet, so passend.
  2. Universalität: Die Spirale vor dem Reichstag war in ihrer Form dem Inneren einer Nautilus-Schnecke nachempfunden. Diese Form entspricht zugleich dem goldenen Schnitt. Sie findet sich wieder in vielen Zusammenhängen. Bestimmte Annahmen, Bilder und Konzepte werden von vielen Menschen ganz intuitiv als schön, gut und wahr erlebt. Und die Spirale als Symbol für Entwicklung, Verbindung, Dynamik, Im-Fluss-Sein, Kreativität, Kraft…gehört ganz offenbar dazu.
  3. Verbundenheit: Wir sind verbunden. Wir, die Bürgerinnen und Bürger miteinander und mit den Politikern und Politikerinnen. Aber vor allem – und das ist noch viel wichtiger – wir als Menschen untereinander. Wir als Einzelne mit dem Ganzen. Wir als Menschheit mit dem Leben auf diesem Planeten und mit dem Universum. Auch dafür steht die Spirale.

Über die Reichtagswiese hinaus

Am Vortag der Kunstaktion und der Bürgerrats-Übergabe standen zwölf Menschen in einem kleinen Kreis auf der Wiese vor dem Reichstag. Ziemlich genau an dem Punkt, wo der Ursprung der Spirale sein würde. Wir haben uns an den Händen gehalten, sind in uns und dann wieder aus uns heraus gegangen und haben unsere Wünsche und Intention sozusagen in die Wiese eingepflanzt. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir noch etliche Genehmigungen nicht.

Aber: Wir hatten die Gewissheit, dass wir zusammen genau hier dieses Bild der Kooperation, Souveränität und Gestaltungskraft in die Welt schicken würden. Ausrichtung – funktioniert fast immer. Wenn eine Gruppe von Menschen – sei es eine kleine oder größere – sich gemeinsam ausrichtet, können „Visionen“ zur Wirklichkeit werden.

Und weil das so ist geht es weiter

Der nächste Bürgerrat ist bereits in Vorbereitung. Die Chancen stehen gut, dass auch in Deutschland bald ausgeloste Menschen Lösungen für die Klimakrise erarbeiten.

Autorinnen-Info

Anne Dänner leitet die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit für den Verein Mehr Demokratie und begleitet die Bürgerrats-Projekte. Ansonsten übt sie Yoga, liebt das Schreiben und ist Mutter von zwei großartigen Söhnen. Blog: innerpeacepolitics 

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